Hinter den Beschwerden: Unsere Recherche zum seltsamen Druck auf Archive.today

Das FBI untersucht derzeit Archive.is (auch bekannt als Archive.today), wie kürzlich bekannt wurde. Die Behörde hat eine Vorladung an den Domain-Registrar der Seite geschickt und Informationen über die Person dahinter angefordert — im Rahmen einer „bundesweiten strafrechtlichen Ermittlung“.

Archive.is wurde 2012 von jemandem unter dem Namen Denis Petrov gestartet — ob dieser Name wirklich stimmt, ist bis heute unklar. Der Dienst ermöglicht es, sogenannte „Snapshots“ von Webseiten zu speichern, indem man einfach eine URL eingibt. Das macht ihn zu einem hilfreichen Werkzeug, um Inhalte zu bewahren, die sonst vielleicht verschwinden würden. Gleichzeitig kann die Seite aber auch genutzt werden, um Paywalls zu umgehen, was sie vielen Medienhäusern schon lange ein Dorn im Auge macht.

Worum es bei der FBI-Ermittlung genau geht, ist bislang nicht bestätigt. Es wird jedoch vermutet, dass es um Urheberrechtsverstöße oder die Verbreitung von CSAM (Material über sexuellen Kindesmissbrauch) gehen könnte. Insgesamt deutet die Situation darauf hin, dass der Druck auf die Betreiber von Archive.is wächst — und auch auf jene, die den Zugang zum Dienst ermöglichen. Wie es aussieht, könnte AdGuard DNS nun zu einem solchen Druckpunkt geworden sein.

Wie wir da hineingeraten sind

Vor ein paar Wochen hat uns eine Person kontaktiert, die sich als Vertreter der französischen Organisation Web Abuse Association Defense ausgab — einer Gruppe, die nach eigenen Angaben gegen Kinderpornografie kämpft. Ihre Website lautet webabusedefense.com, und hier finden Sie eine Archivversion vom 7. November.

In der Nachricht wurde von uns verlangt, die Domain archive.today (sowie deren Mirror-Seiten) über AdGuard DNS zu blockieren. Als Begründung hieß es, der Administrator von Archive.today habe seit 2023 illegalen Inhalt nicht entfernt. Zur Klarstellung: Archive.today ermöglicht es, „Snapshots“ von beliebigen Webseiten anzulegen — darunter im schlimmsten Fall auch illegale Inhalte. Und genau hier liegt die Verantwortung beim Betreiber der Seite: Beschwerden bearbeiten und solches Material umgehend löschen.

Die E-Mail, die wir von WAAD erhalten haben

Das Ganze kam uns merkwürdig vor. Wir sind schließlich kein Hosting-Anbieter, und es ist eher ungewöhnlich, dass ein Infrastruktur-Dienst wie unserer zu so einem Schritt aufgefordert wird.

Kurz darauf eskalierte die Situation — und zwar auf eine Weise, die wir nur als direkte Drohungen bezeichnen können:

Eine der Follow-up-E-Mails, die wir erhalten haben

Wir veröffentlichen hier nicht alle Screenshots, aber es gab mehrere ähnliche Nachrichten.

Wir haben rechtlichen Rat eingeholt — und mussten leider feststellen, dass das französische Recht, genauer gesagt Artikel 6-I-7 des Loi pour la Confiance dans l'Économie Numérique (LCEN), uns tatsächlich verpflichten könnte, zu reagieren und zumindest für französische Nutzer:innen eine Sperre umzusetzen.

Gleichzeitig zeigt die ganze Situation sehr deutlich, wie unzureichend diese Regelung ist. Solche Entscheidungen gehören vor ein Gericht — ein privates Unternehmen sollte nicht unter Androhung rechtlicher Schritte bestimmen müssen, was als „illegal“ gilt.

Trotzdem passte die Geschichte nicht zusammen. Wenn jemand so offensichtlich versuchte, uns unter Druck zu setzen, wollten wir die Gegenseite direkt hören — also haben wir Archive.today selbst kontaktiert.

Wir schrieben an die Kontaktadresse von Archive.today und stellten zwei einfache Fragen:

  1. Können sie die illegalen Inhalte unter den betroffenen URLs entfernen?

  2. Stimmt es, dass sie solche Inhalte bereits in der Vergangenheit nicht gelöscht haben — und wurden sie darüber überhaupt informiert?

Die Antwort kam nur wenige Stunden später. Kurz und klar: Die illegalen Inhalte würden entfernt (was wir überprüft haben), und sie hätten nie vorher eine Meldung zu diesen URLs erhalten.

Außerdem deuteten sie an, dass Archive.today offenbar Ziel einer ganzen Reihe „serieller“ Beschwerden sei — angeblich von französischen Organisationen —, die an verschiedene Firmen und Institutionen geschickt wurden, um dem Dienst zu schaden. Sie teilten sogar einen Link, der eine Beschwerde zeigt, die unserer sehr ähnelt.

An diesem Punkt wurde alles noch merkwürdiger. Also beschlossen wir, den „Beschwerdeführer“ genauer unter die Lupe zu nehmen.

Die Website der Web Abuse Association Defense verweist auf mehrere bekannte Organisationen — Europol, OFAC, NCA —, liefert aber keinerlei Belege oder Details zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit.

Ein Screenshot von der WAAD-Website

Die Vereinigung selbst wurde erst im Februar–März 2025 registriert, ungefähr zur gleichen Zeit, als auch ihre Website online ging. Öffentlich verfügbare Informationen darüber gibt es kaum. Interessant ist außerdem, dass eine Vereinsregistrierung in Frankreich offenbar komplett online möglich ist — und dabei kein Identitätsnachweis erforderlich ist.

Die angegebene Adresse der Vereinigung gehört zu einem Anbieter für Massenregistrierungen von Firmen. Das ist für sich genommen nicht verdächtig, zeigt aber, dass die gesamte Registrierung sehr wahrscheinlich von einer einzelnen Person vollständig online erledigt worden sein könnte.

Auch der X/Twitter-Account der Organisation existiert erst seit August 2025. Er hat nur vier Follower, und der Feed besteht im Grunde nur aus ein paar Reposts.

X-Account von WAAD

All das beweist natürlich nichts direkt — aber die Geschichte wird dadurch nicht stimmiger. In ihrer ersten E-Mail behauptete der „Leiter“ der Organisation, der Austausch mit Archive.today habe mit einem Gerichtsvollzieher-Bericht aus dem Jahr 2023 begonnen. Diese Zeitlinie passt einfach nicht zusammen.

Wir haben uns die angeblichen Gerichtsvollzieher-Berichte genauer angesehen. Wichtig ist hier: Es handelt sich nicht um Gerichtsvollzieher-Berichte im traditionellem Sinne, sondern um sogenannte „constat d’huissier sur Internet“ — offizielle Dokumentationen von Online-Inhalten wie Webseiten, Posts oder Videos. Diese speziellen Berichte wurden über den Dienst Qualijuris bestellt. Und laut Zeitstempeln wurden die meisten davon ebenfalls im August 2025 erstellt — nicht im Jahr 2023.

Nur zwei dieser Berichte stammen tatsächlich aus 2023 und wurden über einen ähnlichen Dienst beauftragt. Interessant ist dabei der Name der Person, die diese Berichte bestellt hat: Er stimmt mit dem Namen überein, der auch in der Korrespondenz auftaucht, die uns der Administrator von Archive.today geschickt hat — und über die er bereits 2024 auf X geschrieben hat.

In diesem früheren Fall schien die Beschwerde von einem echten Anwalt zu stammen — doch jemand hatte an diesem Tag eine Domain mit dem Nachnamen des Anwalts registriert, die lediglich auf dessen echte Website weiterleitete. Genau diese Domain wurde ausschließlich zum Versenden der Beschwerde-E-Mails genutzt und ist inzwischen offline. Und auch damals wurde in der Nachricht auf das LCEN-Gesetz verwiesen.

Wie genau hängt WAAD mit dem Anwalt von damals zusammen? Sind diese Gerichtsvollzieher-Berichte echt — oder handelt es sich vielleicht um einen Fall, bei dem jemand die Identität einer realen Person missbraucht hat? Wir wissen es derzeit nicht, hoffen aber, bald Klarheit zu bekommen.

Leider konnten wir nicht weiter herausfinden, wer tatsächlich hinter WAAD steckt. Die Domain webabusedefense.com ist bei name.com registriert, aber sämtliche Inhaberinformationen (auch frühere Datensätze) sind verborgen. Für E-Mails wird ProtonMail genutzt — ebenfalls eine Sackgasse. Und die Website liegt hinter Cloudflare, was eine weitere Rückverfolgung unmöglich macht.

Wo wir jetzt stehen

Nach allem, was bisher passiert ist, ergibt sich aktuell folgendes Bild:

  1. Die illegalen Inhalte wurden von Archive.today umgehend entfernt, nachdem wir sie darauf hingewiesen hatten.

  2. Die Beschwerden gegen die Website wirken äußerst zweifelhaft. In unserem Fall kamen sie von einer Organisation, die erst vor Kurzem gegründet wurde und offenbar bewusst so aufgebaut ist, dass sich die Personen dahinter nicht identifizieren lassen.

  3. Die Beispielbeschwerde, die uns der Administrator von Archive.today geschickt hat, deutet darauf hin, dass dabei die Identität einer realen Person missbraucht wurde. Wir haben diese Person kontaktiert und warten auf eine Rückmeldung.

  4. Sowohl in unserem Fall als auch in dem anderen Beispiel wurden die Empfänger unter Berufung auf das französische LCEN-Gesetz unter Druck gesetzt. Dasselbe Gesetz sieht jedoch auch Strafen für falsche Meldungen vor:

    Art. 6-I-4 LCEN:
    4. Jede Person, die Inhalte oder Aktivitäten gegenüber den in Absatz 2 genannten Stellen als illegal darstellt, um deren Entfernung oder Unterbindung zu erreichen, obwohl sie weiß, dass diese Angaben falsch sind, wird mit einem Jahr Haft und einer Geldstrafe von 15.000 € bestraft.

  5. Wir gehen davon aus, dass es hier Hinweise auf strafbares Verhalten gibt, das von den Behörden untersucht werden sollte. Daher werden wir eine offizielle Beschwerde bei der französischen Polizei einreichen und alle relevanten Informationen beifügen.

  6. All dies passiert vor dem Hintergrund von Berichten über eine FBI-Ermittlung gegen den Betreiber von Archive.today. Offenbar könnte es dabei um die Verbreitung von CSAM gehen. Ob dieser Fall mit unserem in Verbindung steht, können wir nicht sagen — aber der zeitliche Zusammenhang ist zumindest auffällig.

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